Rund um den Karz
Voll zu ihrem Recht kam die Stube
erst am Abend, und zwar am Winterabend, wenn nach dem
Nachtessen und Spülen die Frauen zur Spinnstube,
zum Karz, zusammenkamen. Junge und Alte, auch die Mägde nahmen
daran teil. Die Mädchen, die eine "Bekanntschaft" entsprechenden
Alters besaßen und offen mit ihr "gingen", hatten die Kunkel
mit Rekrutenbändern umwickelt. Fast jede brachte ihr Spinnrädchen
mit. Schon den Flachs und den Hanf hatte man gemeinsam, vielfach in
Kirchheim, gekauft. Wer nicht spinnen wollte, stopfte wenigstens Strümpfe
oder nähte Straminschuhe. Das Häkeln kam erst später
auf. So saß man zu sechs bis acht um den Tisch mit seiner altertümlichen
Ampel herum, die ein sehr kärgliches Licht, deren Brennöl
aber einen umso durchdringenderen Duft verbreitete. Immer wieder mußte
mit der Pinzette, die an der Ampel hing, der Docht nachgezogen und
der "Butzen" entfernt werden.
Wollte man es etwas vornehmer geben, so legte man zusammen
und kaufte eine Unschlittkerze. Selten kommt eine Geselligkeit
der Gegenwart dem Zauber dieser Spinnstuben gleich. Seltsam,
wie die Menschen hier sich nahe kamen und für eine
Reihe von Winterabenden in Arbeit und Scherz eine wirkliche
lebendige Gemeinschaft bildeten. Wenn der Sturm an den
Läden rüttelte und der Regen an die Scheiben
klatschte, fühlte man so recht die Behaglichkeit
des schützenden Raumes.
Und man wußte noch um die Schauer der Nacht, die
Empfänglichkeit
wecken für das Glück menschlicher Gemeinschaft.
Mußte
man doch die kleinen Windlichter mitnehmen, wenn man
in dunkler Winternacht von einem Dorfteil zum andern
geben wollte in einer Zeit, da in Untertürkheim
nur an vier Stellen armselige Laternen mit trüben Ölfunzeln
brannten.
So geisterte denn auch allerhand Aberglaube durch
den Raum, wenn die Natur für die entsprechende Stimmung sorgte,
und solange die Frauen noch unter sich waren. Da wußte man von
dem weißen Schwein zu erzählen, das unten an den Wallenwiesen,
Cannstatt zu, gesehen wurde. Wie an den Kreuzwegen überhaupt,
so war es besonders an der Wegkreuzung auf dem Hedelfinger Weg gar
nicht geheuer; am Melactürmchen auf dem Ailenberg bei Obertürkheim
habe man wieder die wilde Jagd gesehen und das Blasen der Jäger
gehört, und einer, über den sie weggezogen seien, habe sich
nicht auf den Boden geworfen, deshalb habe er vor ein paar Tagen sterben
müssen. Wenn man die wilde Jagd sehe oder höre, dann sei
ein Krieg in Sicht. Am Weg von Wangen nach Untertürkheim halten
sich drei Geister auf. Es sind drei Bürger, die einst Marksteine
versetzten und deshalb jetzt "gehen" müssen. Wer gerade des Wegs
kommt, den verfolgen sie, unter Umständen bis in seine Wohnung,
und prügeln ihn mit langen Stangen, offenbar Meßstangen,
durch, wenn sie ihn erwischen.
Auch gegen Krankheiten, unter denen man besonders die Kinderseuchen
fürchtet, weiß man allerhand Mittel. Unten in der Mühlstraße
wohnt das Bäbele. Sie heilt mit Salben und Sympathie. Sie genießt
einen gewissen Ruf in der Umgegend; sogar mit Chaisen kommen die Ratsuchenden
angefahren. Schwer geplagt sind die Kinder durch den "Hôrwurm",
einen Rufenausschlag. Ihn heilt Bäbele durch Anblasen und einen
Spruch, den sie dabei sagt.
Immer noch treiben die Hexen ihr Unwesen. Freitags ziehen sie ins Gäu.
Wer sein Haus vor ihnen schützen will, stellt den Besen umgekehrt
vor die Haustür. Wenn man aber doch Unglück im Stall hat
und eine Kuh verhext ist, nimmt man das Horn eines Rinds, das noch
nicht gekalbt hat, und nagelt es nachts um zwölf Uhr an die Stalltür,
trifft der Nagel genau mitten durch, so ist die Hexe am andern Morgen
tot, trifft er etwas seitwärts, so ist sie am andern Tag wenigstens
krank. Bei leichteren Krankheiten des Viehs genügt es unter Umständen
auch, ein zusammengefaltetes Stück Rapier, das man von einem Hexenbanner
sich hat geben lassen, an die Stalltür zu nageln. Wen der Fürwitz
treibt, mag es öffnen, er findet merkwürdige, unleserliche
Zeichen, aber dann tut der Bann selbstverständlich keine Wirkung
mehr. Wenn man eine neugekaufte Kuh oder ein Rind vor Seuchen oder
Krankheiten bewahren will, legt die Hausfrau die Schürze, die
sie trägt, über die Stallschwelle und gibt dem Vieh zum Einstand
ein dick mit Schmalz bestrichenes Brot zu fressen. Schade, daß man
die Hexen im allgemeinen nicht sehen kann, nur dem, der an Weihnachten
geboren ist, ist diese Gabe verliehen. Untertürkheim besitzt damals
einen besonders erfolgreichen Hexenbanner, den man sogar ins Ausland
holt.
Nicht allzulang mag man im Karz bei Hexen und Geistern verweilen, so
angenehm das Gruseln ist, das man in der Geborgenheit der Stube beim
hinhören der Erzählungen empfindet. Man verscheucht die bösen
Geister, indem man eines der alten Volkslieder anstimmt. "Wie's die
Blümlein draußen zittern", "Im schönsten Wiesengrunde", "Ich
weiß nicht, was soll es bedeuten" werden in langgezogenen Weisen
gesungen, daneben auch ein paar lustig neckische, wie ja in dem weitgespannten
Gefühlsleben des Schwaben alle Stimmungen nebeneinander Platz
haben. Alle erschüttert immer wieder aufs neue die schauerliche
Ballade: "Weint mit mir, ihr nächtlich stillen Haine, zürnet
nicht, ihr morschen Totenbeine, Wenn ich euch in eurer Ruhe Stör'-" .
Es ist ein ländliches Gegenstück zu Bürgers "Lenore
fuhr ums Morgenrot empor aus schweren Träumen ..."
Manchmal sind die jungen Mädchen in Begleitung ihrer "Bekanntschaften" erschienen
oder hat sich ein junger Bursche teils verlegen, teils frischweg unter
irgend einem Vorwand eingefunden und sich gerne zum Bleiben einladen
lassen; man hat die Gelegenheit benützt, da der Schwabe nur schwer
die Gefühle in Worte kleiden kann, durch mehr oder weniger zarte
Andeutung seiner Zuneigung Ausdruck zu geben. Dazu eignet sich besonders
gut das Pfänderspiel, das sich deshalb beim Karz auch großer
Beliebtheit erfreut. Auch ein bescheidenes Tänzchen kann, wenn
die Stimmung entsprechend gehoben ist, gewagt werden. Zu diesem Zweck
begibt sich die Karzgesellschaft in die Scheuer, wo einer mit der "Mundharfe" aufspielt.
Inzwischen haben sich auch die älteren Männer eingefunden,
ihre "Weibsleut" heimzuholen. Auch sie lassen sich gerne noch eine
Zeitlang hinhalten. Die Sprache wird jetzt, wo die Männer den
Ton angeben, kräftiger und derber, von einer unmittelbaren Bildhaftigkeit,
um die heutige Dichter meist vergeblich ringen. Schnurren und Streiche
werden erzählt, Witze gerissen. Man kennt sie vielfach schon,
aber man kann sie nicht oft genug hören. Mit jedem Mal werden,
wenn der Erzähler bei Laune ist, die Farben kräftiger, die
Gestalten reicher an Einzelzügen, die Geschichten abenteuerlicher.
Man erzählt vom Zetterskarle, der einst vom Schornstein der Gipsfabrik
herab seinen Mitbürgern ein kräftiges "Prost Nuijôhr!" zurief,
von dem Schwiegervater, der am Lotterseil eine kleine Himmelfahrt angetreten
hat, als eine schwere Garbe vom Garbenboden in die Tiefe gelassen wurde
und er allzulang das Seil festhielt, bis er schließlich oben
am Dachsparren landete, von dem Zwiegespräch, das sich zwischen
Schwiegervater und Schwiegersohn in dieser Lage entwickelte. Auch die
Schule und der Schulmeister kommen an die Reihe. Hat da nicht der Karle
neulich den Oberlehrer in schwere Verlegenheit gebracht? Sein Vater
war Metzger, und bei ihm, dem Karle, war in der Schule "Hosespannes" an
der Tagesordnung. Im Einverständnis mit dem Vater, der dem Oberlehrer
sowieso nicht grün war, band er sich, ehe er in die Schule ging,
eine Blutwurst an dem betreffenden Körperteil fest. Die Exekution
setzte auch prompt in gewohnt kräftiger Weise ein, aber nach den
ersten Streichen floß unten das Blut zur Hose heraus. Furchtbares
Wehgeschrei erfolgte. Der Oberlehrer war tief bestürzt. Eine Woche
Bettruhe, ein Entschuldigungsbesuch beim Metzgermeister, bekräftigt
durch verschiedene Leckerbissen, war das für den einen Teil erfreuliche,
für den andern Teil bittere Ende. Wenn man schon einmal bei der
Schule war, dann wurde der Stoff unerschöpflich. Der starke Druck,
unter den damals die Jugend in den überfüllten Klassen gesetzt
werden mußte, führte zu ebenso kräftiger Gegenwehr
bei den Schülern. Man benützte jede Gelegenheit, einen Zug
zu machen. So war z. B. letzten November wie alle Jahre dem Oberlehrer
eine "Märtesgas" überreicht worden. Am andern Tag schnatterten
im Schulhof die zum Sonntagsbraten bestimmten Gänse. plötzlich,
in einem Augenblick, da unten der Lehrer seinen Schülern den Rücken
gekehrt hatte, flogen durch die Luft, an Schnüren befestigt, einige
Welschkörner. Innen im Klassenzimmer gespannteste Aufmerksamkeit.
Da erhob sich im Hof ein erbärmliches Gequieke. Verständnisvolles
Augenzwinkern bei den Wissenden. Der Oberlehrer eilt ans Fenster, besorgt
um das Schicksal der heiligen Vögel. Er sieht, daß die Schnüre
am Fensterrahmen befestigt sind, und durchschaut sofort die Zusammenhänge.
Sein Blick fliegt über die Klasse. Dort haben sie ein paar Köpfe
tiefer als sonst über die Bücher geduckt. Das scharfe Auge
des Gefürchteten hat die Schuldigen erkannt. Händereibend,
aber tapfer die Schmerzen verbeißend sieht man sie bald darauf
die Gerichtstätte vor dem Katheder verlassen. Solche und ähnliche
Geschichten machen die Runde durch die Kärze. Wenn die Stimmung
dann den Höhepunkt erreicht hat, wird gar das Untertürkheimer "Bohnenlied" gesungen.
Es ist ein Spottlied auf eine Einzahl ortsbekannter Persönlichkeiten.
Lustig geht's im Karz zu auch wenn, wie das gewöhnlich der Fall
ist, gar keine Aufwartung gemacht wird. Erst wenn die Karzzeit zu Ende
geht, der Karz "geschieden" wird, bringt jedes der Beteiligten zum
letzten Abend etwas mit: Eier, Äpfel, Mehl, Butter, Milch. Dann
gibt es Kaffee und Butterkuchen, manchmal auch Wein, mit dem man aber
im Weingärtnerort im allgemeinen recht zurückhält. Mit
Mariä Verkündigung ist die Karzzeit vorbei, denn "Mariä Verkündigung
wirft dem Weih die dunkel um". Schon hat die harte Arbeit im Feld draußen
begonnen.