Die Landschaft hat teilweise ein anderes Gesicht
als heutzutage. Die massigen Höhen freilich sind über den Wechsel der Zeiten
erhaben. Sie zeigen Jahr für Jahr vom Ende des Herbstes bis weit
ins Frühjahr hinein das satte Rotbraun des Keuperberglands, bis
dann im Mai ein silbergrauer Schimmer die Hänge überfliegt.
Da hat der Weingärtner aber schon "gepfählt", und die Berge
tragen nun eine Zeitlang einen merkwürdigen Stoppelbart. Bald
aber wuchert das Blattwerk gewaltig und überzieht die Pfähle
mit dichten Ranken. Je saftiger das Grün ist, umso mehr freut
es den Weingärtner, denn umso gesünder sind seine Reben.
An den Hängen aber bringen die Weinbergmauern, die das Werk
vieler Geschlechter sind und bald in gerader Flucht dahinziehen,
bald bastionsartig vorkragen, einen trutzigen, selbstherrlichen
Zug in das sonst so liebliche Bild.
Während sich also hier Vergangenheit und Gegenwart kaum unterscheiden,
sieht's unten im Talgrund wesentlich anders aus als heutzutage. Vor
allem: der Neckar ist noch nicht kanalisiert. Er spielte im Leben der
Dorfbewohner eine ungleich größere Rolle als heutzutage.
Der für gewöhnlich gelassen dahinfloß, wie ein junger
Knabe in der Sonne sich dehnte und räkelte und unterhalb der Brücke
sich im luftigen Spiel der Wellen erging, der konnte jählings
zu einem ungestümen Riesen werden, der alles zerschlug, was sich
ihm am Menschenwerk in den Weg stelle. Zwar die Kinder im Usserdorf
freuen sich, wenn im Gögelbach oder am Durchlaß unterhalb
der Schlittenbahn das Wasser immer höher und höher steigt,
und wie das Atemholen eines Riesen erscheint es ihnen, wenn die Wellen
zwischen den Steinmauern des Durchlasses in rascher Folge klatschend
vorpreschen und plätschernd wieder verebben. Sieht man aber über
die Brücke hinunter, so will es einem fast grausen ob der unbändigen
Kraft, mit der der braune Strom unter einem dahinbraust. Und wer gar
in der Kindheit einen nächtlichen Eisgang erlebte, wenn die Eisschemel
donnernd an den scharfgekanteten Vorsprüngen der Brückenpfeiler
auseinanderbarsten, um in wildem Wirbel sich zwischen den Pfeilern
durchzudrängen, wird dieses gewaltigste aller Naturschauspiele
nie vergessen können, kein Wunder, daß die Mutter das Kind
schrecken konnte durch die Drohung mit dem "Hôkemâ", der
heimtückisch mit seinem Haken einen in den Fluß hineinzieht,
wenn man allzu unvorsichtig und vertraulich am Ufer spielt. Und daß das
keine leere Redensart war, das erfuhr man fast Sommer für Sommer,
wenn die Kunde das Dorf durcheilte: "Im Neckar ist einer ertrunken",
und ein paar Männer vom Nachen aus den Flußgrund mit langen
Stangen absuchten, bis sie dem Neckar seine Beute wieder entrissen
hatten. Mit einem Tuche verhüllt wurde der leblose Körper
auf einer Bahre, begleitet von der Dorfjugend, die angesichts der Majestät
des Todes das Schweigen überkam, hinaufgeschafft in das Kelterstübchen
in der Zehntscheuer, wo er lag, bis der Arzt seines Amtes gewaltet
hatte. Auch das war ein eindrucksvolles Erleben für das ganze
Dorf im sonstigen Gleichmaß der Lage.
Und immer noch erzählten in jenen Jahren die Älteren einander
von der Nacht auf den 1. August 1851, wo ein gewaltiges brachen sie
aus dem Schlafe gerissen hatte: das plötzlich auftretende Hochwasser
hatte die Holzbrücke mitgerissen, mit einem donnernden Knall war
sie zusammengestürzt. Das ganze Neckartal war überschwemmt,
bis zum Wangener Damm hinüber wogte das Wasser, von den "Hetzen" herunter
gesehen glich das Tal einem großen See, aus dem die Kronen der
Obstbäume als dunkle Flecke herausragten.
Und jedes Jahr, wenn der Neckar zufror, lebte man in Sorge wegen
des Eisgangs. Denn wenn am Berger Wehr das Eis aufgehalten wurde,
entstand eine Mauer, die Meter um Meter wuchs und hinter der immer
höher
das Wasser sich staute. Über die ganze Talaue wurden die Eisschemel
getragen, sie scheuerten die Rinde der Obstbäume ab, und auf
Jahre hinaus war der Ertrag vernichtet.
So war der Neckar ein Tyrann, der seine Untertürkheimer immer
wieder in Atem hielt, aber trotzdem hatten sie alle eine heimliche
Liebe zu ihm. Und wer in der Fremde der Heimat gedenkt, für
den gehört zu ihrem Bilde auch der Fluß und die leise
Melodie, die das Spiel seiner Wellen begleitet.
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