Der Tod
So gingen die Jahre dahin in Arbeit und in der Sorge ums tägliche Brot.
Kinder wurden den Eheleuten geboren, aber noch war die Kindersterblichkeit ungemein
groß, Wiege und Grab standen nahe beieinander. Kamen die Kinder ins schulpflichtige
AIter, so wurden sie eine wertvolle Hilfe. Nun aber waren sie herangewachsen,
hatten schon einen eigenen Hausstand gegründet. Inzwischen hatte die Arbeit
den Körper der Alten gebeugt; wetterhart und zerfurcht wurden die Gesichter.
Aber so sehr manchmal auch die Arbeit gedrängt hatte, ganz aufgegangen war
man nicht in ihr. Man hatte sich dazwischenhinein immer wieder auch einen Blick
gegönnt in das Tal, wo der Neckar glänzte und gleitzte wie flüssiges
Silber, man sah den Rauchfahnen der Züge
nach, sah, wie am Wangener Berg die Pfirsichbäume als erste die rosaroten
Blüten aufsteckten, wie das „Grün" oder der „Gairenwald" ein
einziges Blütenmeer wurden. Man fühlte sich als seines Herrgotts
unmittelbarster Kostgänger und als der freie Mann, der keinen irdischen
Herrn über sich hat und auf eigenem Grund und Boden steht. In solchen
Stunden beneidete man die
Stadtleute nicht mehr, wenn sie sich's auch in manchen Stücken bequemer
machen konnten, Und die Stadtleute sind sehr auf dem Holzweg, wenn sie meinen,
der Mann auf dem Land habe keinen Sinn für die Natur. Wohl ist für
ihn Alltag, was für den Städter Sonntag ist, aber wenn er auch nicht
viel darüber redet, seine Liebe zur Natur ist männlicher als die
des durchschnittlichen Städters. In Sturm und Regen, in Hagelschauer und
in Sonnenglut hat er sie kennengelernt. Er weiß auch ihre Schönheit
im kleinen zu schätzen, hat seine Freude an den „Pfingstnägele" auf
der Weinbergmauer, an den „Sternen", den Narzissen, denen er gern
ein
bescheidenes Plätzchen im Weinberg einräumt. Am meisten aber erfreut
ihn der würzige Duft des blühenden Weins, dem kein anderer Duft gleichkommt
und der ihm Verheißung ist auf einen reichen Herbstsegen.
Und wie er im Lauf der Jahre sich angepaßt hat
an den großen Rhythmus
der Natur, so ist ihm allmählich auch das Wissen geworden um die Notwendigkeit
in allem Werden und Ver-geben. Auch ihm wird es etwas Selbstverständliches,
daß er eines Tages wird gehen müssen. Erdverwachsen, wie er im
Lauf der Jahre geworden ist, ist ihm das Wort von dem mütterlichen
Schoß der
Erde und das andere: „Zur Erde sollst du werden, von der du genommen
bist" keine bloße Redensart mehr.
Und nun geht ein schöner Frühlingstag eben zur Küste. Er
hat den alten Weingärtner noch einmal hinausgelockt, aber die Arbeit
ist ihm sauer geworden. Er spürt es, und eine Ahnung sagt ihm: Nicht
mehr lange wird's dauern, und der „Leichtsäger" (Leichenansager)
wird unten im Flecken von Haustür zu Haustür gehen und sein Sprüchlein
sagen, tu dem uralter Väterbrauch seinen Niederschlag gefunden hat: „Wenn äber
so guet sei will, no sollet er (Ihr) au em ...'s Glôet (Geleit) gäe
uf de Kirchhof." „Er send en dr Klag*)" (oder: „Er
sollet au ens Haus komme**)"). Und dann werden ein paar freundliche
Nachbarn an seiner Bahre neben den brennenden Kerzen die Nachtwache halten,
und am nächsten
oder übernächsten Tag werden sie ihn hinaustragen, und dreimal,
am Bahnhof, am „Adler", vor dem Friedhof werden sie den Sarg
abstellen, und die Kinder werden jeweils einen Gesangbuchvers singen, und
nach der Beerdigung werden die Verwandten zu einem Leichentrunk zusammenkommen,
und der scharfe Geruch der Kränze wird noch über der Stube liegen,
und sie werden ihm zur Ehre sagen, er sei ein braver Mann gewesen. Und schließlich
werden sie in angeregter Unterhaltung nach Hause geben und von Dingen reden,
die gar nichts mehr mit ihm zu tun haben. Und das dünkt ihm ganz gut
so. Während
er an diese Dinge denkt, geht ein wissendes, versonnenes Lächeln über
sein Gesicht, er hält die Hand vor die Augen und sieht hinüber,
wo im Sattel zwischen dem Wangener Berg und der Gänsheide eben die
Sonne als ein glutroter Ball im Abendnebel versinkt. Nun ist auch sein Tagewerk
getan, er bindet den einen Zipfel seines Schurzes hoch, schultert seine
Feldhaue und geht in sich gekehrt den Weg hinunter zum Dorf.
*) Zur "Klage" gehört die weitere Verwandschaft.
**) Ins Haus geladen werden nur die nächsten Verwandten.